„Oberbürgermeister Drechsler hat uns gesagt: Ihr müsst eure Forderungen nach eigenen Räumen zurückstellen, bis jedes Dorf erst mal ein eigenes Bürgerhaus hat. Die Innenstadt kommt an zweiter Stelle.“
Hans-Joachim Wölk, Zeitzeug*innen-Interview, Juli 2024
‚Grenzgänger*innen‘ zwischen den Dörfern, die 1974 nach Marburg eingemeindet wurden, hat es immer gegeben. Meist waren es Leute wie „der Philipp aus Bortshausen“. Der half mit Spezialkenntnissen und Krauthobel, den nicht jeder im Haus hatte, die Kohlernte in Sauerkraut zu verwandeln. Oder die Schneiderin, die einmal im Jahr ein paar Tage „auf den Hof“ kam, um der ganzen Familie neue Kleider zu verpassen. Weil sie herumkam, das Neueste aus den anderen Dörfern wusste und die Menschen bis auf die Unterwäsche kannte, spielte sie bisweilen sogar die Rolle der Heiratsvermittlerin.
Dabei waren Regeln zu beachten: Ehen zwischen katholischen und evangelischen Verlobten konnten zu Reibereien und Nachbarschaftsspott zwischen den Dörfern führen. So hatte ein junger Mann aus Ginseldorf wenig Chancen, in das nächstgelegene Dorf einzuheiraten. Denn, so wusste noch in den 1970er Jahren jeder sechsjährige Bauerbacher: „Die Sintflut ging bis Ginseldorf. Bauerbach lag höher!“ Diese Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Die“ war nicht selten an Religionszugehörigkeit geknüpft. Ein Marburger Chronist erzählt von einem Moischter Vermieter, der noch 1993 im Scherz fragte, ob der zukünftige Mieter evangelisch sei. Als dieser bejahte, erklärte der Moischter: „Die Kathole wohnt in Schröck. Da wo das drecksch Wasser hinläuft.“ Die Konkurrenz war historisch gewachsen, weil die katholischen Dörfer ursprünglich zum Bistum Mainz und der Amöneburg gehörten, während die evangelischen nach Marburg orientiert waren.
Eine viel konkretere Konkurrenz bestand seit der Gebietsreform zwischen den alten Ortsteilen Marburgs wie Ockershausen oder dem Hansenhausviertel und den neu eingemeindeten Dörfern. Denn Ausbau und Pflege ihrer Infrastruktur kostete nun Geld, das den alten Ortsteilen schmerzlich abging. Die Stadt Marburg musste hier sogar bereits zugesagte Bauprojekte auf Eis legen, was die Stimmung in der Kernstadt nicht verbesserte.
1861 | 295 Einwohner*innen | davon 287 katholische | 8 evangelisch |
1885 | 237 Einwohner*innen | davon 236 katholisch | 1 evangelisch |
1961 | 532 Einwohner*innen | davon 518 katholisch | 14 evangelisch |
© Zur Verfügung gestellt von Karl Böttner
Verlobtes Paar: Eckhard Grün Müller, Landwirt aus Rauischholzhausen, (1886-1957) und Margarete Mink (1887-1975) aus Kleinseelheim in evangelischer Tracht. Moischt, um 1912.
Großeltern des Leihgebers Karl Böttner (*1949) aus Moischt.
„Zwischen Rauischholzhausen und Kleinseelheim lag das katholische Gebiet. Dorthin verliebte man sich nicht.“
Leihgeber Karl Böttner, September 2024