VERHANDLUNGSSACHE

© Stadtarchiv Marburg 

Frau Menche beobachtet die Geschehnisse in Bortshausen rund um die Gebietsreform, August 1974

Eigeninitiative gefragt

Wenn ein Sturm vor dem 1. Juli 1974 einen Baum auf eine Zufahrtsstraße zu einem kleineren Ort warf, waren Eigeninitiative und Organisationstalent gefragt. Wer hat eine Motorsäge – wer einen Traktor? Wer holt Helfer*innen herbei und wie werden sie bezahlt? Auch andere Aufgaben wurden in Selbstverwaltung übernommen. Schnee wurde geschippt, Grünflächen gemäht und der Friedhof gepflegt. Nach der Eingemeindung nach Marburg reichte ein Telefonanruf, und das Problem musste von der zuständigen Behörde geregelt werden.

„Da hatte jedes Dorf einen Bürgermeister, ein Gemeindeparlament. Das entsprechend der Einwohnerzahl mit fünf, sechs oder sieben Gemeindevertretern besetzt war. Und die haben die Beschlüsse gefasst, die für die Gemeinde wichtig waren. Ein Gemeindearbeiter gab es auch, der hatte keinen Rang und Namen. Das war ein Rentner. Der hatte eine Schaufel, eine Schubkarre und eine Harke. Und er hat die Arbeiten ausgeführt, die nötig waren für kleines Entgelt.“

Hans-Werner Ludwig, Zeitzeug*innen-Interview, Juli 2024

    In neuen Ämtern

    Neben solchen Entlastungen brachte die Gebietsreform vor allem erhebliche politische Veränderungen mit sich. Zuvor gab es in den Dörfern einen Gemeinderat, der eigenständig Beschlüsse fassen konnte und einen Bürgermeister, der sie durchsetzte. Nach ihrer Eingemeindung wurden in den neuen Stadtteilen stattdessen Ortsbeiräte eingerichtet. Diese waren personell zwar stärker besetzt, hatten aber doch nur Vorschlagsrecht und konnten keine eigenen Beschlüsse fassen. Die Entscheidung lag nun beim Stadtparlament.

    © Stadtarchiv Marburg

    1974 wurde mit Oberbürgermeister Drechsler auch in Dilschhausen direkt auf der Straße gesprochen

    Mitsprechen - mitgestalten

    Mitsprache war bei der Gebietsreform wichtig. Die Stadt Marburg unternahm einiges, um die Bevölkerung einzubinden. 1974 besichtigten Oberbürgermeister Dr. Hanno Drechsler, der Magistrat und Verwaltungsangehörige alle Orte. Sorgen wurden buchstäblich ‚auf der Straße‘ verhandelt, Übernahmeängste abgebaut und die Bedürfnisse der neuen Stadtteile ermittelt. Die Philipps-Universität beteiligte sich daran mit einem Fragebogen. Er sollte helfen, die neuen Stadtteile zu verstehen, Lösungen zu finden und Projekte vertraglich festzulegen. Zusätzlich wurden „Bürgersprechstunden“ eingerichtet, in denen die Menschen ihre Wünsche vortragen konnten.

    © Stadtarchiv Marburg

    Die Bevölkerung von Cyriaxweimar begrüßte die Gebietsreform.

    Ortsvorsteher*innen

    Das neue Amt des Ortsvorstehers wurde zunächst meist von den ehemaligen Bürgermeistern des jeweiligen Dorfes übernommen. Es war daher anfangs ausschließlich von Männern besetzt. Dies änderte sich 1985 - Ilse Ganski nahm als erste weibliche Ortvorsteherin in Hermershausen das Amt auf. Heute hat Marburg 25 Stadtteile mit eigenem Beirat und Ortsvorsteher*in. Fünf davon, also 20 % sind Frauen. Von den 154 Ortsbeiratsmitgliedern sind mit 51 Frauen 33 % weiblich.