Schon lange vor 1974 veränderten sich Leben und Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland. Dies lag an der Entwicklung von Technologie und Wohlstand. Nach den Jahren des Wirtschaftswunders war für viele Auto, Kühlschrank, Waschmaschine, Fernsehgerät und der eigene Telefonanschluss selbstverständlich. So hatten 1969 31 % der Privathaushalte ein Telefon, 1978 waren es 70 % und 1989 89 %. Industrie, Handwerk, Dienstleistungsbetriebe und die öffentliche Hand boten gute Arbeitsplätze mit sicherem Einkommen und geregelten Arbeitszeiten.
All dies waren Herausforderungen für Politik und Verwaltung. Die im ländlichen Raum neu entstandenen Neubaugebiete brauchten Wasser, Strom, Kanalisation, Straßen und Busse. Dabei stießen kleinere ländliche Verwaltungen personell und finanziell an Grenzen. Die Gebietsreform, die die kleineren Ortschaften zu größeren leistungsfähigeren Einheiten zusammenfasste, war nicht Ursache, sondern Folge umfassender gesellschaftlicher Veränderungen.
„Das war mir alles zu eng, und ich wollte da raus. Nebenan gab es die sogenannte Kommune, da wollte ich schon einziehen. Meine Mutter hat Sodom und Gomorrha gerufen. Dass das dann mein Untergang wäre, wenn ich in so eine Kommune zöge. […] Wir waren schon diesen strengen Zwängen und Sitten unterlegen. Die Mutter oder Großmutter haben festgelegt, was sich ‚gehörte‘ oder nicht.“
Marianne Wölk, Zeitzeug*innen-Interview, Juli 2024
Auf dem Land führte Ende der 60er Jahre die neue Generation die Landwirtschaft oft nicht weiter oder machte daraus einen Nebenerwerb. Andere entwickelten das bäuerliche Familienunternehmen zum hochtechnisierten Ein-Personen-Betrieb. In Dagobertshausen gab es 1974 noch vier vollbetriebene Bauernhöfe. Bei einer Dorfbegehung wurde das „wenig gepflegte Aussehen der Höfe im Ortskern“ bemerkt, das „wahrscheinlich auf den relativ häufigen Wechsel der Hofeigentümer zurückzuführen sei“. Das Selbstverständnis der Geschlechter-rollen änderte sich; nun gingen Frauen wieder vermehrt der Erwerbsarbeit nach. Die schrittweise Einführung der 40-Stunden-Woche mit freien Wochenenden schaffte mehr Freizeit. Mit dem Familieneinkommen wuchsen Konsum und Werbung. Eltern und Kinder lebten immer seltener mit der Großfamilie zusammen. Und es wandelten sich die Werte: manche empfanden dies als Verlust; andere als Befreiung – etwa von engen Regeln, sozialer Kontrolle oder überholten Lebensentwürfen.
„Für mich stelle sich mehr die Frage, warum gibt es jetzt die 68er Bewegung und warum gibt es eine RAF? Das hat mich mehr interessiert. Man wollte eben auch ein bisschen was wissen und nicht nur, wie man Wurst macht oder Salat.“
Marianne Wölk, Zeitzeug*innen-Interview, Juli 2024
© Stadtarchiv Marburg
Vor der Gebietsreform hatten viele Familien auf dem Land eine Kuh, eine Ziege oder zwei, Juni 1974
„Das war mir alles zu eng, und ich wollte da raus. Nebenan gab es die sogenannte Kommune, da wollte ich schon einziehen. Meine Mutter hat Sodom und Gomorrha gerufen. Dass das dann mein Untergang wäre, wenn ich in so eine Kommune zöge. […] Wir waren schon diesen strengen Zwängen und Sitten unterlegen. Die Mutter oder Großmutter haben festgelegt, was sich ‚gehörte‘ oder nicht.“
Marianne Wölk, Zeitzeug*innen-Interview, Juli 2024
© Stadtarchiv Marburg
Stadtteilbegehung mit Oberbürgermeister Dr. Hanno Drechsler im Neubaugebiet Cappel, August 1974